Balance-Modell
Es gibt ein „Balancemodell des individuellen Befindens“, das ursprünglich als zentrales Erklärungsschema für Symptombildungen am Arbeitsplatz diente. Vom Erlangener Neuropsychiater Hans-Heinrich Wieck entwickelt und vom Wiener Psychiater und Psychoanalytiker Karl Purzner überarbeitet, hat man es bislang in zahlreichen Publikationen zu Mobbing oder Burnout aufgegriffen.
Aber auch über den arbeitspsychologischen Kontext hinaus hat sich das Balance-Modell in der Praxis bewährt. Einfach und verständlich, veranschaulicht es, dass Anforderung und Erholung unmittelbar auf Körper und Psyche einwirken und dass Körper und Psyche ihrerseits ebenso direkt rückwirken. Zudem erklärt das Modell auch, wie innerhalb dieser anhaltenden Wechselwirkung („Resonanzphänomen“) sowohl Aufwärts- wie Abwärtsspiralen ausgelöst werden. So können pathogene und salutogene, sprich, krankheitserregende und gesundheitsfördernde Dynamiken nicht nur anschaulich visualisiert werden. Vielmehr lassen sich entscheidende Aussagen zum Schweregrad ablaufender Prozesse treffen, deren visualisierte Schnittmengen zugleich Ausgangspunkte markieren und Anstoß geben für ressourcenorientierte, therapeutische Interventionen.
Als probates Mittel, messbare Orientierung zu schaffen, die einerseits angezeigte Verhaltensänderungen deutlich macht und andererseits Not tuende Verhältnisänderungen abbildet, haben sich in der Vorsorgemedizin insbesondere 24-Stunden-HRV-Messungen durchgesetzt, und dies nicht grundlos: Mit einer HRV-Messung sieht man, wo man gesundheitlich steht, und sie zeigt jedem sein Sprungbrett in ein besseres Leben. Werden beispielsweise HRV-Messungen in Rahmen betrieblicher Gesundheitsvorsorge eingesetzt, dann nur zu dem Zweck, das Verhalten positiv zu ändern und andere Verhältnisse am Arbeitsplatz zu schaffen. Fazit: Ausgeglichene, gesündere Mitarbeiter:innen sind kooperativer, produktiver und loyaler. Richtiges Verhalten braucht die richtigen Verhältnisse.
Um die unglaubliche Komplexität von Resonanzphänomen leichter zu begreifen und dabei nicht den Überblick zu verlieren, wurden von Wieck und Purzner im obigen Balance-Modell sechs auf unser Befinden einwirkende Ursachenfaktoren definiert und diese wiederum in zwei Triaden eingeteilt (siehe Abbildung 1).
Das Erleben und Verhalten eines Menschen kann in jedem dieser sechs Ursachenfaktoren „regelrecht“ oder „regelwidrig“ ablaufen. Wie sinnvoll oder persönlich befriedigend wir jeden einzelnen Bereich gestalten, hängt von der Bereitschaft und Fähigkeit ab, die wir im Laufe unseres Lebens dafür erworben haben.
Mit dem Begriff „Kultur“ (z. B. „Leistungskultur“ oder „Schlafkultur“) ist in erster Linie die Kompetenz für Gestaltungsmöglichkeiten der jeweiligen Faktoren gemeint. Darin enthalten ist auch die Frage nach der Qualität der getroffenen Maßnahmen hinsichtlich Umfang, Häufigkeit und Wirksamkeit, etc.
Unterschieden wird zwischen der „Erholungstriade“ (Gesundheitskultur, Regeneration/Freizeitkultur, Schlafkultur) und der „Anforderungstriade“ (Interaktionskultur, Leistungskultur, Konfliktkultur). Das persönliche Befinden in einem der sechs Kulturbereiche ist nicht nur das Ergebnis der Bemühungen einer betroffenen Person, sondern zugleich Bedingung für das Befinden in allen weiteren „Kulturen“.
Ein Beispiel: Wer sich kaum bewegt und unzureichend ernährt, wird früher oder später an verminderter Schlafqualität leiden. Wer regelmäßig schlecht schläft, wird mittelfristig Einbußen in seiner Konzentrationsfähigkeit und Leistungskraft bemerken. Wem aufgrund eines eingeschränkten medizinischen Allgemeinzustandes Aufgaben immer mehr Zeit abverlangen, dem werden der Druck der Verpflichtungen und die Anstrengungen des Alltags allmählich eine sperrige Müdigkeit aufbürden. Unmittelbar wirkt sich dies auch auf die Beziehungsfähigkeit (Interaktionskultur) eines Menschen aus, auf den Umgang mit seinem beruflichen und privaten Umfeld sowie auf seine Konfliktkultur (Konfliktmanagement, Problemlösungskompetenz) im Besonderen.
Im Sinne dieses Wechselwirkungsprinzips beeinflussen also alle sechs Ursachenfaktoren einander und bedingen eine bio-psycho-soziale Befindlichkeit, mitsamt allen Rückkopplungseffekten. Je beeinträchtigter die Befindlichkeit eines Menschen in einem oder mehreren Bereichen, desto eher werden sogenannte „Teufelskreise“ wirksam. Werden Negativkreisläufe nicht unterbrochen, kommt es nach und nach zu schweren Erschöpfungszuständen und in weiterer Folge zu massiven Problematiken wie Depressionen, Alkoholismus, Medikamentenabhängigkeit, Burnout o. ä.
Bei bleibend „regelwidriger“ Aktivierung einer der sechs Ursachenfaktoren entfaltet sich langfristig eine störende Wirkung im gesamten Netzwerk. Mit anderen Worten: Langzeiteinwirkungen zeitigen Langzeitfolgen. So können Schlafprobleme oder zwischenmenschliche Konflikte zunächst die auslösende Ursache sein und bei Dauerbelastung eine Aufschaukelung auslösen, mit der Konsequenz einer wechselseitigen Verstärkung der ungünstigen Wirkungen von Einzelfaktoren. Obwohl Schlafstörungen ursprünglich kein Problem sein mögen, werden sie durch berufliche oder private Konflikte nach Erreichen eines bestimmten Intensitätsgrades dann dauerhaft auftreten.
Oft macht „Selbstmedikation“ krank: der wahllose und unkritische Griff zu Schlaftabletten, Schmerz- oder Rauschmitteln bewirkt fast immer eine Verschlechterung der Gesamtdynamik im Balance-Modell. Hierbei entstehen vielseitige Beschwerdemuster.
Wenn es hingegen gelingt, den beeinträchtigten Bereichen mit einer sinnvollen und „regelrechten“ Gestaltung zu begegnen, werden pathogene Wechselwirkungen durch Kompetenzzuwächse abgedämpft. Es kommt zu einer Aufwärtsspirale: die Störkräfte werden durch eine salutogene Lebensführung und positive Interventionen geschwächt und überwunden.
Auf Abbildung 2 lässt sich die Korrelation als innige Verbundenheit aller sechs Hauptfaktoren am Beispiel eines Mobiles bestens illustrieren: Die Aktivierung eines jeden Faktors bringt alle anderen in Bewegung.
Solcherlei gilt nicht nur im psycho-physischen Bereich, denn das Resonanzprinzip hat auch in der physikalischen Welt sein Analogon. Eine sehr eindrückliche Darstellung negativer Aufschaukelung bietet etwa der Brückeneinsturz der Tacoma Narrow Bridge, Kalifornien, aus dem Jahre 1940. Nur vier Monate nach ihrer Fertigstellung hatte sich eine Resonanzkatastrophe ereignet: Windgeschwindigkeiten bis zu 70km/h verursachten eine zerstörerische Eigenschwingung der Brücke, die sie zum Einsturz brachte.
Schwingungsphänomene in den sechs Ursachenfaktoren unseres Balance-Modells können sich im schlimmsten Fall so weit aufschaukeln, dass der Mensch buchstäblich "zusammenbricht", "kollabiert", "einstürzt". Dies entspräche der Situation eines Burnout, in der – nach einer langen negativen Resonanzphase – scheinbar „plötzlich“ nichts mehr geht. Eine HRV-Messung kann alledem schon mit geringem Aufwand vorbeugen.